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Neglect |
Berliner Morgenpost, 27.06.1998 |
Wenn die halbe Welt verlorengeht
Berliner Mediziner erforschen neue Therapien für "Neglect-Patienten"
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Neglect
- Was ist das?
Bücherliste Neglect |
Es gibt Menschen, denen von heute auf morgen die halbe Welt
verlorengeht. Sie essen nur noch von der rechten Hälfte ihres Tellers, lassen beim
Rasieren eine Gesichtsseite aus, lesen nur den linken Rand jeder Zeile - ohne es zu
bemerken. Obwohl sie keinerlei Sehstörung haben, vernachlässigen sie eine Seite ihres
Gesichtsfeldes, schenken ihr einfach keine Aufmerksamkeit mehr. Ärzte nennen diese
Menschen "Neglect-Patienten" (engl. neglect heißt vernachlässigen). |
Ursache
für Neglect ist meistens ein Schlaganfall. |
Ursache für den Verlust ist meistens ein Schlaganfall, manchmal
auch eine Blutung im Kopf. "Dabei sind Hirnbereiche geschädigt worden, die das
Koordinatensystem für die Orientierung im Raum steuern", erklärt Prof. Karl-Heinz
Mauritz, Leiter der Neurologischen Rehabilitation an der Klinik Berlin der Freien
Universität (FU) in Kladow. Seine Abteilung erforscht unter anderem neue
Therapiemöglichkeiten für Neglect-Patienten. |
Training
im Multimedia-Labor. |
Ein Beispiel ist das Training im neueingerichteten
Multimedia-Labor: In dem abgedunkelten Raum werden verschiedene Landschaften auf einer
Leinwand abgebildet. Die Patienten sollen mit ihren Augen einer Figur aus dem
Laser-Projektor folgen, die sich über das Bild bewegt. Auf diese Weise soll die
Aufmerksamkeit auch auf die vernachlässigte Seite gelenkt werden. |
Spezialhelm
mit Infrarot-Technik. |
Ein Spezialhelm registriert dabei mit Infrarot-Technik die
Blickrichtung des Patienten, so daß man Informationen über die Therapieerfolge erhält.
Zusätzliche Anreize können Musik oder Geräusche bringen, die sich über Kopfhörer von
der bevorzugten zur vernachlässigten Seite bewegen. |
Neue
Methoden der Rehabilitation von Prof. Mauritz und seinen Mitarbeitern. |
Jährlich erleiden 250 000 Menschen in Deutschland einen
Schlaganfall. Davon wird nur jeder Fünfte wieder ganz gesund, knapp die Hälfte der
Patienten muß später mit körperlichen Beeinträchtigungen leben. Prof. Mauritz und
seine Mitarbeiter haben neue Rehabilitationsmethoden entwickelt, die das "Leben
danach" so weit wie möglich normalisieren sollen. |
Training
im Ganglabor. |
Eine besonders häufige Folgeerscheinung ist die halbseitige
Lähmung des Körpers, die das Stehen und Gehen für Betroffene schwierig macht. An der
Berliner Klinik können selbst bettlägerige Patienten mit Hilfe eines Flaschenzugs im
Stehen trainieren. Im Ganglabor werden sie von einem Fallschirmgurt getragen, der ihren
Beinen einen variablen Teil der Körperlast abnimmt. |
Frühes
Training ist besonders wichtig. |
Mit dieser Unterstützung kann der Patient das Gehen auf einem
Laufband üben. Therapeuten korrigieren die Gangbewegungen mit den Händen. Die in Kladow
erfundene Methode ist mittlerweile von 200 anderen Krankenhäusern übernommen worden.
Grund: "Auf diese Weise kann sehr früh mit dem Training begonnen werden. Das ist
wichtig, weil der Lernerfolg gerade in der ersten Zeit nach dem Schlaganfall groß
ist", so Prof.Mauritz. |
Die
Kraft der Musik wird genutzt. |
Auch die Kraft der Musik soll beim Laufen helfen. Die FU-Mediziner
haben Sohlen mit Sensoren entwickelt, die mit einem digitalen Walkman in Verbindung
stehen. Bei den Gehübungen registrieren die Einlagen ungleiche Gewichtsverlagerung,
schlechtes Gehtempo und falsches Abrollen der Füße. Der Patient erhält über Kopfhörer
sofort eine Rückmeldung: Die Musik wird langsamer, die Melodie verzerrt. Eine
Untersuchung zeigt, daß die inzwischen europaweit patentierte Methode weit bessere
Laufergebnisse erzielt als konventionelle Therapien. |
Botulinum-Toxin
gegen Muskelspastiken. |
Einen weiteren Erfolg können die FU-Forscher auf dem Gebiet von
Muskelspastiken vorweisen. Sie kamen auf die Idee, spastische Fehlstellungen der
Gliedmaßen von Schlaganfall-Patienten mit dem Botulinum-Toxin zu behandeln. Das äußerst
starke Nervengift wird in geringsten Mengen in die entsprechenden Muskeln gespritzt, um
diese zu schwächen. Dadurch erreicht man, daß die Bewegungen nicht mehr durch die
Spastik gebremst werden. Der Effekt hält mehrere Wochen bis Monate an. |
Ungewöhnliche Wege führen häufig zum Erfolg. |
Das Botulinum-Gift wird unter Luftabschluß von bestimmten
Bakterien gebildet und kam früher in Fleisch- und Fischkonserven vor. Ungewöhnliche Wege
führen häufig zum Erfolg - nach diesem Motto gingen die Forscher um Professor Mauritz
auch an die Beschaffung des Nervengiftes heran: Sie bekamen es aus den Beständen der
britischen Armee, die es als Kampfstoff eingelagert hatte.
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